Brief an Hatsumi Soke

Reflektierende Betrachtungen
eines Schülers des Bujinkan Budo
von Armin Dörfler, 9. Dan

Zusammenkünfte (Taikai), das Training oder die Praxis als geistige Übung. Viele
verstehen dabei den wahren Grund oder was es bedeutet nicht ganz. In erster Linie ist
es ein menschliches Miteinandersein. Denn bei Bujinkan Budo handelt es sich um
etwas sehr, sehr menschliches und nicht um etwas übermenschliches, also wie Mystik
oder Magie. Nein! Wir bleiben auf der Erde. Wenn z.B. im Training eine scheinbar
perfekte Technik gelingt, was kommt dann dabei heraus? Es wird sein, daß diese
Person etwas erfährt und sich verändert. Sie wird nach dem Training etwas kräftiger,
verständnisvoller, liebesfähiger sein. Also es passiert etwas wirklich menschliches. Es
geht also darum, wieder Mensch zu werden, welcher jedoch in der heutigen Zeit durch
so viele Dinge überreizt wie auch überfordert wird. Für viele ist dieser Druck zu groß.
Hierbei hilft uns Bujinkan Budo als Weg, um sich als Mensch wieder zu öffnen. Denn
wir sind doch mehr als nur ein kleines „Was?“.

Als Mensch sollte man weder zu bescheiden noch zu groß an sich denken, also den
goldenen Mittelweg finden, um Mensch zu werden. Das Training im Dojo ist also eine
geistige Übung (ohne Geist kein Taijutsu), das uns einen Geist hinzufügt. Und dieses
führt uns in eine andere Dimension, was über unserem täglichen Menschsein steht
und uns zugleich durchdringt. Dieses ist ein Streben des Ich-Geistes.

Dieser Geist hat mit Klugheit nichts zu tun. Es gibt kluge Menschen, die aber völlig
geistlos, also ungeistig sind. Dieses geistige hebt uns nämlich über das faßbare
Objektive hinaus. Es geht also um ein sich entwickeln und nicht um Erklärung oder
Bestehendes. Es geht auch nicht darum, immer neue Fähigkeiten zu lernen, sondern
um eine Verwandlung zu einem wahren Menschen. Dieser wird dann anders denken,
handeln, sehen, lieben. Nichtgeistige wird das erstaunen und an etwas magisches
glauben lassen. Aber ein Mensch wird dies gar nicht bemerken. Er wird es
wahrscheinlich nicht einmal bemerken, wenn er es erfassen sollte, denn er würde dies
gar nicht zulassen. Die Essenz also mit Geist, Herz und Körper ein anderer zu werden
(Sanshin)? Also hin zum Menschen, der reif wird und eine andere Wirklichkeit
durchdringt? Denn nur wer über sich hinaus wächst, wird erst ein ganzer Mensch. Und
diese Bestimmung möchte durch ihn hindurch für andere sichtbar werden.

Aber was oder wer ist der Übende und als wer wird er, was er doch einmal sein
möchte, wenn die Übung gelingt? Ich meine ihn hier als Subjekt, wobei hier aber
meistens nur das Objekt gesehen wird. Aber das ist wohl die Schranke vom Subjekt
in der Welt der Objekte. Also ein Gefangener der Umstände und Gegebenheiten. Der
Mensch wird Mensch, wenn er ein Bewußtsein entwickelt, Umstände
wahrzunehmen und diesen zu dienen und sie zu meistern. Alle Dinge(!) wie Kunst,
Wissenschaft in der sozialen Gemeinschaft sowie das Erkennen der Wunder um uns
herum wie z.B. Farben, Pflanzen, jeder Stein, ja alle Dinge. Denn diese haben den
Anspruch als das, was es ist, wahrgenommen zu werden. Es fordert den Respekt
vom Menschen, von seiner Ordnung und der eigenen Wesenheit. Durch persönliche
Gefühle aber, die sich ständig einmischen, kann der Mensch diesem Dialog vom
Subjekt und Objekt nie ganz gerecht werden. Vom wahren Menschen(!) aus gesehen
ist das etwas unglücklich, aber real; vom wirklichen Umfeld aus gesehen doch die
Welt in der wir leben.

Wenn mir z.B. einer von seiner Urlaubsreise erzählt und auch Bilder zeigt, so kann ich
mir das vielleicht sehr gut vorstellen, doch hat das mit seinen Erlebenseindrücken
kaum etwas zu tun. Denn jedes Erlebte hat ganz persönlich individuell einen Sinn,
weil wir alle in einer Welt leben, deren Wirklichkeit für jeden in dem besteht, was sie
persönlich bedeutet. Jedem von uns, wenn er sich umsieht, begegnet das, was da
ihn umgibt. All seine individuelle Wirklichkeit, was sie für ihn bedeutet, jedes Ding hat
für ihn seinen eigenen Akzent. Hierfür ist das Training dann eine Art wie der Mensch
sich immer mehr kennenlernt und seinen Geist vertieft. Das zu spüren und seine
Wirklichkeit finden, die Bestimmung auszubauen, zu entwickeln und das Bewußtsein
zu erhöhen. Aber durch objektive Einflüsse werden wir allzu oft gestört auf dem Weg
zum Wesen, das wir werden sollten. Wer also denkt: ich bin ein anderer oder auf
dem Weg dahin. Der, der ich bin, bin ich also nicht. Wer bin ich dann?

Wer im Training vielleicht mal das Glück hatte verstanden zu haben, der stößt dann
sicher auf Aha-Gefühle, Lichtblicke, Impulse, die ganz von innen erfaßt werden. So
wie „ja genau, das ist es oder das ist es nicht“! Training bedeutet also ein ständiges
sich üben und vertiefen unseres Selbst. Den ewigen Weg der Übung zu gehen, den
wir als das für uns Glückliche empfunden haben. Das lnnerste zu finden, das ganz
Persönliche entwickeln lassen. Dafür gibt es keine festen Lehren, nur Beispiele oder
eigene persönliche Erfahrungen. Denn jede Wirklichkeit gibt es immer nur einmal (ichi
go ichi) für jeden einzelnen. Und doch existiert der Hinweis „so und so sollst du
üben! !“. Aber das Endprodukt ist immer einzigartig, immer unseres. Das passiert fast
immer durch den Umweg und nicht auf dem direkten Weg.

Also Bewußtwerdung durch den Umweg? Das kann auch als ein ewiges
menschliches Leiden angesehen werden. Ein Leiden zum innersten Frieden! Das
im Prinzip erst geschehen wird, wenn man eins wird mit ES/Gott. Also ist dann jede
Form des Leidens eine Form dafür, daß wir noch nicht in die innerste Tiefe
eingedrungen sind. Aber dieses Leiden ist ein Muß, ein fester Bestandteil! Wir
müssen es als solches zulassen. Wir dürfen es nicht kaschieren oder verdrängen,
im Dunkeln verschwinden lassen. Denn es ist wohl der einzige Weg zum Innersten.
Aber erst dann, wenn man dieses Leiden in seinem Innersten erfaßt‚ zuläßt und
ihm begegnet, wird diese Form von Leiden kein Leiden mehr sein. Welche, die das
nicht verstehen, denken da gleich an Masochismus, an ein Genießen des Leidens.
Aber das ist es durchaus nicht. Sondern für den, der sich als Subjekt wahrnimmt,
durch das Leiden hindurch zu sich selbst finden will. Das muß ohne einer
Gestaltwerdung geschehen. Denn Gestalt ist eine Illusion. Also alle Dinge, alle
Vergänglichkeiten sind nichts. Nur ein Gedanke! Also keine Wirklichkeit. Dann ist
Nichts die Wirklichkeit? Und sprechen oder schreiben ist nur eine Reflektierung
davon. Eine Erfahrung also durch das Nichts. Aber nicht im negativen Sinn, sondern
durch das wahre Selbst. Also durch ein Wissen aller Dinge. Durch unsere eigene
individuelle Art, diese Dinge zu sehen.

Dabei ist die Einswerdung ein wichtiger Bestand wie das Sandkorn in der Wüste,
also ein Abstoßen des Ich-Bewußtseins. Dadurch finden wir das tiefere Sein, das
sich verbirgt, aber gefunden werden möchte. Das ist unser aller Grundbestreben.
Aber hier auch einen Lehrer zu haben, der uns hilft, unsere Bestimmung zu finden,
wer wir in Wirklichkeit sind. Der, der wir durch unglückliches Verhalten noch nicht
sein konnten oder können. Also eigentlich eine Art Rückführung, eine neue
bewußte Geburt, ein nach Hause gehen zum Selbst. Dieses Heimgehen-Gefühl hat
jeder schon auch mal irgendwie erfahren und es wird ein ständiger Begleiter sein.
Das sich geborgen fühlen, zurück in die Heimat, zur Mutter.

Ein Hindernis zum Selbst liegt zum Teil an unserem Denken wie „das ist falsch“
oder „das ist richtig“, was wir auch nie von Soke Hatsumi hören, sondern er sagt
„glücklich“ – „unglücklich“ (auch im Unglück ist Glück). Was sich eigentlich als
Gegensatz zeigt, ist im Leben eine Entwicklung, die Bewegung bedeutet. Wie ein
Fluß, der scheinbar von A nach B fließt, aber dann doch ins Meer gelangt, das alle
verbindet, aber spätestens dann, wenn die Sonne es erwärmt und in den Himmel
steigt und als Regen wieder kehrt. Also ein bewegendes Leben. Leben ist
Bewegung, also ein tägliches Sichbemühen. Das ist der Rhythmus von In + Yo (Yin
+ Yang).

In dieser ewigen fließenden Bewegung steht noch das Herz, mit dem wir spüren,
etwas empfinden. Daß hier das Erlebende und Gespürte die Wirklichkeit ist, in der
wir leben. Das ist die Selbstverwirklichung, hier finden wir die Bestimmung. Also
nicht die gezeigte Technik sehen, sondern das dahinter. Was sagt Soke Hatsumi
immer? „Nicht denken, nicht sehen“. Das Ich loslassen, das Selbst/ES handeln
lassen, Selbstverwirklichung. Dieses Selbst führt uns in eine andere Dimension,
vorausgesetzt, ich lasse es entwickeln und bemühe mich darum. Nicht wir dürfen
suchen, sondern wir müssen es uns finden lassen. Nicht ein Krieger des Kampfes
und Überlebens. Nein. Ein Krieger des Lebenskampfes zum finden lassen der
Bestimmung. Dazu ist der Weg des Herzens ein Weg (i shin den shin) von Herz zu
Herz, von Geist zu Geist, allen Weggefährten!

Für meinen lieben geduldigen Lehrer Soke Hatsumi
ihr Schüler Armin Dörfler, der Bavarian King